Interview mit Dr. Joëlle Zimmerli

Joëlle Zimmerli, Geschäftsführerin von Zimraum, im Gespräch mit SSREI zur Relevanz sozialer Nachhaltigkeit bei institutionellen Immobilienportfolios.

Joëlle Zimmerli beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit der Schnittstelle von Gesellschaft und Immobilienwirtschaft. Ihr Tätigkeitsfeld umfasst sämtliche Phasen des Immobilienzyklus, von der Grundlagenforschung über die Projektentwicklung bis zur Bewirtschaftung. Zimmerli ist Mitglied des SSREI-Prüfgremiums und verantwortete als technische Leiterin des Gebäudelabels Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz (SNBS) die Operationalisierung der Kriterien sowie Projekt-Zertifizierungen.

Interview mit Dr. Joëlle Zimmerli:
Soziologin und Geschäftsführerin der Zimraum GmbH
Frau Zimmerli, Sie entwickeln Kriterien zur Beurteilung der sozialen Nachhaltigkeit von institutionellen Immobilienportfolios. Was sind Ihre Beweggründe?

Viele Institutionelle Eigentümer haben sich in den letzten Jahren im Rahmen ihrer ESG-Strategien Klimaziele gesetzt, die über die gesetzlichen Vorlagen hinausgehen. Nach dem «E» rückt nun langsam das «S» ins Blickfeld. Das Problem ist, dass niemand so richtig weiss, was soziale Nachhaltigkeit ausmacht. Wir beobachten, dass viel in das «S» projiziert wird, und die grossen gesellschaftlichen Zusammenhänge dabei oft in den Hintergrund rücken. Wir haben deshalb beschlossen, mit Partnern aus der Wissenschaft, Immobilienverbänden und institutionellen Investoren anhand diverser Portfolios zu testen, wie eine Operationalisierung der sozialen Nachhaltigkeit aussehen könnte. Unser Ziel ist es, wenige klare, einfach interpretierbare und vergleichbare Kennzahlen für die Social Performance zu definieren, ergänzend dazu kurze Checklisten zu erstellen und damit dem Wettbewerb um gute Ideen mehr Raum zu geben.

Viele Portfolio- und Asset Manager sind aktuell damit beschäftigt, belastbare Energie- und Emissionsdaten aufzubereiten. Was veranlasst Sie, gerade jetzt Kennzahlen für die soziale Nachhaltigkeit zu entwickeln?

Es ist richtig, dass der Fokus der Immobilienwirtschaft im Moment noch auf der Erhebung von Klima-Kennzahlen liegt. Dank dem REIDA CO2-Benchmark und den umweltrelevanten Kennzahlen der AMAS gibt es mittlerweile einen klaren Orientierungsrahmen und gute Instrumente. Wir wollen sowohl den Schwung als auch den Fokus aufs Wesentliche dieser Instrumente mitnehmen, weil wir überzeugt sind, dass es sich die Immobilienwirtschaft schlicht und einfach nicht leisten kann, Nachhaltigkeit auf Umweltfragen zu reduzieren. Die hitzigen Debatten zum Referenzzinssatz, zum Wohnschutz und zu grösseren Entwicklungsprojekten zeigen, dass die Öffentlichkeit und die Politik von nachhaltigen Immobilienportfolios auch Antworten auf gesellschaftliche Fragen erwarten.

In der Branche besteht aktuell noch kein Konsens darüber, was unter dem «S» zu verstehen ist oder wie gesellschaftlich-soziale Nachhaltigkeit gemessen werden soll. Wie sehen Sie das?

Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Diskussionen ist das «S» nicht kompliziert: Auf der gesellschaftlichen Ebene geht es um die Versorgung breiter Bevölkerungsschichten mit Wohnraum, um sozial gemischte Wohnumfelder und um gut funktionierende Nachbarschaften und Quartiere. Für institutionelle Eigentümer geht es um die Frage, wie Immobilienportfolios strukturiert sind und wie der verfügbare Wohnraum verteilt wird. Bei Neubau- und Erneuerungsprojekten stellt sich die Frage, was mit bisherigen Mietern passiert, für welche Zielgruppen zusätzlicher Wohnraum entsteht und wie Nachbarschaften und Quartiere gestärkt werden können. Natürlich gibt es daneben unzählige weitere Bedürfnisse. Wir glauben aber, dass sich Kennzahlen auf die grossen gesellschaftlichen Hebel beziehen sollen, und dass bei den individuellen Bedürfnissen der Markt spielen soll.

Wie kann und soll die «Social Performance» eines Immobilienportfolios effektiv gemessen bzw. beurteilt werden?

Wir orientieren uns an der Philosophie der umweltrelevanten Kennzahlen von AMAS und REIDA: «Keep it simple». Die Social Performance kann im Kern einfach mit hart prüfbaren Kennzahlen gemessen werden: Wir testen gerade, wie Daten zur Portfoliostruktur und zu Erst- und Wiedervermietungen möglichst einfach erhoben und ausgewertet werden können. Daneben entwickeln wir Fragebatterien, mit denen Eigentümer in ihren Mieterbefragungen belastbare Erkenntnisse zur Zufriedenheit mit der Nachbarschaft, Wohnung oder Liegenschaftsverwaltung erhalten. Schliesslich nutzen wir klassische Kennzahlen zu Fluktuationen und Leerstand, die in der Regel bereits erhoben und ausgewertet werden.

Die Optimierung der ökologischen Kriterien erfordert oft hohe Investitionen. Das schafft Anreize, Liegenschaften mit einer schlechten Öko-Bilanz abzustossen. Droht Liegenschaften mit schlechten sozialen Bewertungen dasselbe Schicksal?

Nein, aus unserer Sicht gibt es in Bezug auf die soziale Nachhaltigkeit keine Gefahr von «stranded assets». Wir sind überzeugt, dass grundsätzlich jede Liegenschaft mit vertretbarem Aufwand sozial nachhaltig transformiert werden kann. Die wichtigsten Hebel sind dabei die Erneuerungsplanung und die Bewirtschaftung. Mit der Erneuerungsplanung wird festgelegt, wann welche Liegenschaften an die heutigen Bedürfnisse und Marktpreise angepasst werden. In der Bewirtschaftung wird entschieden, wer preisgünstigen oder barrierefreien Wohnraum erhält. Wir haben Kennzahlen ausgewählt, die von Portfolio- und Asset Managern direkt beeinflusst werden können. Wir verstehen soziale Nachhaltigkeit als Resultat eines weitsichtigen Portfolio- und Asset Managements und einer konsequenten Vermarktung und Bewirtschaftung, und nicht als Liegenschafts- oder Lageattribut. Wir sind auch überzeugt, dass Liegenschaften mit starken sozialen Qualitäten ökologische Schwächen kompensieren können.

Viele Eigentümer tun sich schwer damit, dass innovative Ideen und Ansätze, mit denen sie sich von Konkurrenten abheben möchten, in umfangreichen Checklisten und Indikatorensets der Nachhaltigkeits-Labels verschwinden. Wie kann das verhindert werden?

Indem wir Pflicht und Kür voneinander trennen. Wir verfolgen mit der sozialen Nachhaltigkeit dasselbe Ziel wie REIDA mit ökologischen Aspekten: Wenige einheitliche Kennzahlen sollen sichtbar und vergleichbar machen, wie gut ein Portfolio das Pflichtprogramm erfüllt. Daneben gibt es Themen, zu denen es keine standardisierten Vorgaben gibt. Fondsleitungen und Asset Manager sollen frei entscheiden und kommunizieren, wie sie z.B. für eine gute Quartierversorgung, ein gutes Zusammenleben oder ein gutes Mietermanagement sorgen wollen. Wir verstehen das «Wie» als Kür, hier sollen der Wettbewerb, die Kreativität und Innovation spielen. Anders gesagt: wir wollen mehr Zielorientierung und weniger Mikromanagement. ESG sollte in einer stark regulierten Welt kein engeres Korsett, sondern ein Sprungbrett sein, mit dem die Immobilienwirtschaft beweisen kann, was sie mit renditeorientierten Portfolios leisten kann.

Wo stehen Sie mit dem Kennzahlenset?

Wir arbeiten aktuell daran, unseren Ansatz anhand von vier Fonds unserer Partner zu konkretisieren und zu validieren. Wir werden die Erkenntnisse und einen ersten konsolidierten Entwurf am 28. September 2023 an der Fachtagung «Soziale Nachhaltigkeit im ESG messen – worum geht es?» vorstellen und mit Eigentümern, Bewirtschaftern und Experten diskutieren. Interessierte Leser und Leserinnen können sich hier anmelden. Es würde mich freuen, wenn wir Sie an der HWZ in Zürich begrüssen dürfen.

Herzlichen Dank, Frau Zimmerli, für Ihre Zeit und das interessante Gespräch.
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