Gewaltiges Potenzial zur Vermeidung von grauer Energie

Fredy Hasenmaile, Chefökonom von Raiffeisen Schweiz zu den Thema Angebots- vs. Bestandsmieten, der Fehlallokation von Wohnraum und grauer Energie.

In der Immobilienbranche sind die Anstrengungen zur Reduktion von CO2-Emissionen bereits weit fortgeschritten, zumindest was die institutionellen Investoren betrifft. Seit Ende des letzten Jahres sind Immobilienfonds angewiesen und Anlagestiftungen aufgefordert, in ihren Geschäftsberichten Rechenschaft über ihre Umweltkennzahlen abzulegen. Was einfach tönt, war ein langwieriger Prozess, denn das Messen und Zusammenrechnen von Energieverbräuchen ist eine aufwändige Arbeit. Die CO2-Emissionen eines Immobilienfonds müssen mit denjenigen anderer Anlagegefässe vergleichbar gemacht werden, ansonsten sich aus dem Vergleich kaum Erkenntnisse gewinnen lassen.

Bisher beschränken sich die Anstrengungen bei den Renditeliegenschaften hauptsächlich auf die CO2-Emissionen in der Betriebsphase. Der nächste grosse Schritt ist die Integration der grauen Energie. Denn ohne Einbezug der Energie, die beim Bau von Immobilien und der Herstellung der dafür verwendeten Materialien verbraucht wird, ist die Emissionsberechnung nicht nur unvollständig, sondern in vielen Fällen sogar irreführend. Die Immobilienbranche tut sich jedoch schwer mit den Zielen der Kreislaufwirtschaft. Kein Wunder, denn aus der Optik der Kreislaufwirtschaft ist jenes Gebäude, das gar nicht erst gebaut wird, das beste. In diesem Zusammenhang hat Raiffeisen Schweiz in ihrer jüngsten Immobilienstudie auf einen interessanten Punkt hingewiesen: Auf dem Schweizer Immobilienmarkt hat das Mietrecht eine groteske Fehlallokation von Wohnraum bewirkt. Rund ein Drittel aller Haushalte wohnt in zu grossen Wohnungen, die zwei und mehr zusätzliche Zimmer aufweisen, als Personen im Haushalt wohnen. Vor allem Seniorenhaushalte leben häufig in für ihre Bedürfnisse zu grossen Wohnungen. Weil diese Haushalte bereits nach relativ kurzer Mietdauer keine finanziellen Anreize mehr haben in eine kleinere Wohnung umzuziehen, verharren sie in den zu grossen Wohnungen.

Die Fehlanreize resultieren aufgrund des geltenden Mietrechts. Dieses friert die Mieten beim Abschluss eines neuen Mietvertrages ein und lässt nur wenige Gründe für Anpassungen zu. Diese Regelung schützt einseitig die Bestandsmieterinnen und -mieter vor höheren Kosten, bewirkt jedoch über die Zeit eine immer stärkere Entkoppelung der Angebotsmieten von den Bestandsmieten. Haushalte, die ihre Wohnfläche aufgrund des Auszugs der Kinder oder der Trennung vom Partner verkleinern wollen, müssten für eine etwas kleinere Wohnung zur Neumiete mehr bezahlen als die bisherige Bestandsmiete. Folglich bleiben Wohnungsverkleinerungen aus. Mehr als die Hälfte der über 60-jährigen Mieterinnen und Mieter haben mindestens zwei Zimmer mehr als Haushaltsmitglieder. Insbesondere in den Zentren generieren die ausgeprägten Preisdifferenzen zwischen den Bestandsmieten und den Angebotsmieten grosse Fehlanreize, indem Haushalte für eine Wohnflächenreduktion bestraft statt belohnt werden.

Belegung der Mietwohnungen

Verteilung der Differenz zwischen Zimmerzahl und Haushaltsgrösse nach Alter, 2021, in %


Quelle: Bundesamt für Statistik, Raiffeisen Economic Research

Weil zudem die älteren Haushalte immer zahlreicher werden, wird die Fehlallokation immer grösser und der durchschnittliche Wohnflächenverbrauch pro Kopf steigt fortlaufend an – aktuell liegt er bei 46,6m². Gleichzeitig wächst die Zahl der Haushalte, die sich mangels Wohnraums und folglich stark steigender Angebotsmieten in überbelegten Wohnungen zusammenpferchen müssen. Wären die Wohnungen dagegen so alloziert, dass alle Haushalte ein Zimmer mehr hätten als Personen im Haushalt leben, wäre die Wohnfläche annähernd ideal verteilt und würde einen Flächenverbrauch von 38m² pro Kopf umfassen. Damit wäre nicht nur das Problem der Unter- oder Überbelegung gelöst, sondern zusätzlich würden dadurch 170’000 Mietwohnungen à 100m² freigespielt. Damit wäre ein zusätzlicher Wohnraum für knapp eine halbe Million Menschen vorhanden. Mit einer besseren Nutzung des Mietwohnungsparks könnte demnach nicht nur die sich zuspitzende Wohnungsknappheit weitgehend entschärft werden, sondern auch noch eine zusätzliche Wohnraumreserve geschaffen werden, ohne dass auch nur ein einziges neues Gebäude erstellt werden müsste. Im bestehenden Wohnungspark schlummert demnach ein ungeheures Potenzial, nicht nur in Bezug auf die Bekämpfung der Wohnungsknappheit, sondern auch aus ökologischem Gesichtspunkt. Die graue Energie von 170’000 Wohnungen könnte eingespart werden.

Mit dem erwarteten starken Wachstum der Neumieten dürften die Fehlanreize, die überdies auch Leerkündigungen und eine zu tiefe Mietermobilität fördern, in den nächsten Jahren noch grösser werden. Es wäre daher in Anbetracht des gewaltigen, brachliegenden Potenzials dringend nötig, dass einerseits die mietrechtlichen Ursachen der Fehlallokation behoben und andererseits mutige Überlegungen angestellt werden, wie ein sinnvoller Flächentransfer bewerkstelligt werden könnte.

Autor: Fredy Hasenmaile, Chefökonom Raiffeisen Schweiz

 

Zur Person: Fredy Hasenmaile ist seit Sommer 2023 Chefökonom von Raiffeisen Schweiz. Zuvor hat er während über 20 Jahren verschiedene Führungspositionen im Economic Research der Credit Suisse wahrgenommen. Er ist Volkswirtschaftler und hat seinen Mastertitel an der Universität Zürich erworben. Er gilt als einer der profundesten Kenner des Schweizer Immobilienmarktes.

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