Michel Fleury, Immobilienanalyst bei Raiffeisen Schweiz, im Gespräch zum Thema Wohnungsnot und neue Lösungsansätze.
Interview mit Michel Fleury:
Economic Research der Raiffeisen Schweiz
Wer sind Sie?
Ich bin als Immobilienmarktanalyst im Economic Research von Raiffeisen Schweiz tätig. Dort analysiere ich als Autor unserer Immobilienpublikationen täglich die Struktur und die Entwicklung des schweizerischen Immobilienmarktes. Meine dabei gewonnenen Erkenntnisse bilden die Grundlage für die offizielle Immobilienmarktmeinung der gesamten Raiffeisen Gruppe. Ursprünglich habe ich an der Universität Zürich Politikwissenschaften und Geschichte studiert und war vor meiner Tätigkeit im Bankensektor als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Wirtschaft in Zürich beschäftigt.
Privat engagiere ich mich aktiv in mehreren Kulturvereinen in meiner Heimatstadt Kreuzlingen.
Wohnungsnot ist in aller Leute Munde. Wie schätzen Sie die Situation heute ein und wie lautet Ihre Prognose?
Seit einigen Jahren werden in der Schweiz Wohnungen tatsächlich immer knapper. Von einer landesweiten Wohnungsnot kann zurzeit allerdings noch kaum gesprochen werden. Auf nationaler Ebene gemessene Indikatoren zeigen, dass es in der Schweiz eigentlich noch viel freien Wohnraum gibt. Nur verheimlichen solche Durchschnittsbetrachtungen, dass dieser vielfach nicht dort steht, wo er dringend gebraucht wird. So herrscht in vielen Städten schon seit Jahren ein akuter Wohnungsmangel. Auf der anderen Seite gibt es aber im Kanton Jura oder im Kanton Solothurn nach wie vor hohe Leerstände. Aktuell herrscht noch eher eine Wohnverteilungsnot. Mit der aktuellen, landesweit feststellbaren Wohnungsverknappung breitet sich der Wohnungsmangel nun allerdings von den traditionellen „Hot-Spots“ immer weiter in die Peripherie aus. Leider ist davon auszugehen, dass sich die Angebotsverknappung am Wohnungsmarkt in nächster Zeit weiter deutlich akzentuieren wird. Damit werden immer mehr Regionen in unserem Land bald mit einer spürbaren Wohnungsknappheit konfrontiert sein.
Welches sind die wichtigsten Treiber der Wohnungsnot? Bevölkerungswachstum durch Zuwanderung, Mangel an Baureserven, zu geringe Verdichtung, zu geringe Nutzungsdichte?
Die starke Verknappung, welche aktuell hauptsächlich am Mietwohnungsmarkt stattfindet, ist das Ergebnis des Zusammenspiels verschiedener Faktoren. Auf der Nachfrageseite kommt der Druck primär vom starken Bevölkerungswachstum. Unsere relativ gut funktionierende Volkswirtschaft zieht zurzeit sehr viele Menschen an, die in unserem Land arbeiten und leben wollen. Auch die vielen Kriegsflüchtlinge üben einen spürbaren Einfluss auf die Nachfrage aus. Verstärkt wird diese Zusatznachfrage durch die Tatsache, dass die Schweizerinnen und Schweizer ihren Wohnraum immer ineffizienter Nutzen. Aufgrund der zunehmenden Individualisierung und der Alterung unserer Gesellschaft werden die Haushalte immer kleiner, was dazu führt, dass wir auch pro Kopf mehr Wohnungen benötigen.
Im Moment kann die Produktionsseite dieser starken Nachfrage leider kein genügend grosses Angebot entgegensetzen. Die sehr hohen Preise des knappen Baulandes und die jüngst gestiegenen Bau- und Finanzierungskosten machen den Wohnungsbau aktuell nicht besonders attraktiv. Zudem werden eigentlich dringend notwendige Verdichtungsbestrebungen vielerorts durch geltende regulatorische Bedingungen sehr stark gehemmt.
Die Bauherren behaupten, sie würden durch Einsprachen von der Verdichtung abgehalten. Ist das eine Übertreibung oder Realität und wie könnte man gegen diesen Missstand vorgehen?
Das ist definitiv keine Übertreibung. Wer ein Projekt plant, muss sich mit einer Vielzahl an berechtigten und unberechtigten Einsprachen herumschlagen. Dies verteuert, verzögert oder verhindert leider vielfach aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive eigentlich sehr sinnvolle Projekte. Natürlich soll sich jeder mit einem berechtigten Einwand zur Wehr setzen können. Allerdings müssen unbedingt Wege gesucht werden, um die Zahl der von Anfang an zum Scheitern verurteilten Begehren zu reduzieren, welche bewusst nur einer Verzögerungstaktik dienen. Eine Kostenbeteiligung der unterliegenden Partei am dadurch verursachten bürokratischen Aufwand erscheint in diesem Zusammenhang zum Beispiel sehr sinnvoll.
Verzögert oder gar verhindert werden aber auch Neubau- oder Ersatzneubauprojekte. Der Tages-Anzeiger hat dies kürzlich mit Beispielen für Zürich illustriert: Neugasse-Areal, Witikon, KIBAG-Areal und weitere. Wie wollen wir so der Bevölkerung das Grundrecht Wohnen gewährleisten?
Es ist natürlich fragwürdig, wenn Grossprojekte mit hunderten neuen Wohnungen in der angespannten Situation auf dem Wohnungsmarkt verhindert werden. Denn gegen die Wohnungsknappheit hilft vor allem eines: Mehr Wohnungen auf den Markt bringen. Wer diese erstellt und ob diese über Neubau, Aufstockung oder Ersatzneubau entstehen, sollte in dieser Situation eher zweitrangig sein.
Es sind aber dringend auch neue Lösungsansätze gefragt. Wir sollten uns z.B. unbedingt verstärkt mit Fragen zur Umverteilung von Wohnraum und Umnutzung bestehender Bauten auseinandersetzten. Wenn unsere Wohnungen beispielsweise effizienter genutzt würden, könnten in der Schweiz viel mehr Menschen im bestehenden Wohnungspark leben. Zudem gibt es insbesondere in den kommerziellen Flächenmärkten teilweise sehr hohe Leerstände. Umnutzungen könnten damit viel neue Wohnfläche in bestehenden Gebäuden ermöglichen.
Sind der Ausbau der Baulandreserven ein weiterer Lösungsansatz?
Eine neue, grossflächige Einzonungswelle könnte hier natürlich Abhilfe schaffen. Damit könnte vielerorts wieder einfach auf der „grünen Wiese“ viel Wohnraum erstellt werden. Ein Vorantreiben der Zersiedelung dürfte in unserem Land aber kaum mehrheitsfähig sein. Wir sollten uns daher auf Lösungen konzentrieren, die eine funktionierende Wohnraumversorgung primär über Verdichtungsbestrebungen ermöglichen. Zu nennen wären beispielsweise eine Ausweitung der erlaubten Ausnützung in Ballungszentren, Flexibilisierung geltender Bau- und Zonenordnungen und die Entschlackung von Bewilligungs- und Einspracheprozessen.
Sind Umnutzungen einfach realisierbar?
Grundsätzlich ist das Umnutzungspotential von kommerziellen Flächen sehr gross. Der teilweise hohe Leerstand könnte reduziert werden und gleichzeitig könnte vielfach der Mietertrag gesteigert werden. In der Realität kann dieses Potential aber leider oft nicht erschlossen werden. Wegen herrschenden bau- und zonenrechtlichen Grundsätzen sowie aus architektonischen oder technischen Gründen ist eine Wohnnutzung oft nicht möglich. Oder sie ist aufgrund hoher Umbaukosten schlicht nicht rentabel. Aus dem Prime Tower oder dem Circle können Sie beispielsweise kaum ein Wohngebäude machen. In dieser Hinsicht wäre die Steigerung der Nutzungsvariabilität und -flexibilität bei Neubauprojekten ein prüfenswerter Vorschlag – sowohl aus gesellschaftlicher wie aus ökonomischer Sicht. Wenn Umnutzungen einfach, ohne grössere bauliche Eingriffe möglich sind, können Besitzer flexibler auf Leerstände oder eine sich verändernde Marktsituation reagieren, was sicherlich zu einer effizienteren Nutzung bestehender Flächen beitragen könnte.
Welche Faktoren helfen, den Markt vermehrt in diese Richtung zu bewegen?
Ich denke, dass das Interesse an solchen Umnutzungsprojekten vor allem im Bürobereich künftig deutlich zunehmen wird. Die durch Covid-19 verursachte Home-Office-Revolution hat sich bisher noch kaum auf den Büroflächenmarkt durchgeschlagen. Viele Bürobesitzer loten nach wie vor das Potential von Flächeneinsparungen erst noch aus. Zudem verhindern lange Vertragslaufzeiten, Kündigungsfristen und Planungsbedürfnisse kurzfristige Veränderungen. Allerdings dürften viele Mieter sich bei anstehenden Vertragsverlängerungen und ihrer längerfristigen Planung stark mit Fragen zur tatsächlich benötigten Fläche auseinandersetzten. Es ist daher davon auszugehen, dass der Büroflächenmarkt mittelfristig noch stärker unter Druck geraten wird. Wenn die Leerstände in gewissen Regionen spürbar steigen, die Büromieten unter Druck geraten und gleichzeig der Mietwohnungsmarkt an Attraktivität gewinnt, dürfte das Umnutzungspotential verstärkt an Aufmerksamkeit gewinnen.
Peter Staub, Verwaltungsratspräsident der pom+Consulting, hat in einem Interview in der NZZ am Sonntag vom 3. September 2023 dargelegt, dass es heute KI-Lösungen für die Optimierung der Flächen gibt. Solche Instrumente unterstützen diese Entwicklung, oder?
Definitiv, denn der wirtschaftlich denkende Mieter wird alles unternehmen, um sich noch effizienter zu organisieren. In vielen Grossraumbüros klassischer Büromieter wie Banken oder Versicherer ist das Einsparpotential in Zeiten von Homeoffice mehr als offensichtlich. Wenn mit technologischen Mitteln die Allokation der fixen Arbeitsplätze optimiert werden kann, werden diese sicher auch Einsatz finden.
Was raten Sie nun konkret den Immobilienbesitzern?
Grundsätzlich würde ich in dieser Hinsicht zu einer proaktiveren Perspektive aufrufen. Wenn die Möglichkeit einer Umnutzung erst ins Auge gefasst wird, wenn die Fläche bereits leer steht, ist es eigentlich schon zu spät. Eine frühe, möglicherweise bereits in der Planungsphase stattfindende Auseinandersetzung mit dem vielfach sehr beträchtlichen Umnutzungspotential ist auf jeden Fall empfehlenswert.