Karin Bührer, Geschäftsführerin von Entwicklung Schweiz, zum Thema «Bedeutung der nachhaltigen Immobilienbewertung für die Entwicklung».
Wer sind Sie?
Ich bin Geschäftsführerin von Entwicklung Schweiz, dem nationalen Branchenverband der Entwickler und Gesamtleister, sowie Gründerin und Inhaberin der Awaska GmbH. Während meinen rund 20 Jahren in den Bereichen Kommunikation, Reputation und Public Affairs durfte ich für KMU, internationale Grossunternehmen und Verbände im Einsatz sein und hatte dabei verschiedene Leitungsfunktionen inne, unter anderem bei der Stadt Zürich, beim Wirtschaftsdachverband economiesuisse, bei EY (Ernst & Young) und bei Implenia.
Aus einer Unternehmerfamilie stammend, mein Vater hatte ein Ingenieurbüro für Tiefbau und Geomatik, habe ich später an der Zürcher Fachhochschule Winterthur Kommunikation und Journalismus studiert, den MAS in Communication Management & Leadership abgeschlossen und verschiedene gezielte Weiterbildungen absolviert, beispielsweise an der London School of Economics (LSE).
Ihre Branche hat grosse Herausforderungen zu bewältigen, bedingt durch die Knappheit an Wohnraum und gleichzeitig an Baulandreserven. Wo sehen Sie die Lösungsansätze?
Wir müssen primär beim Bestand ansetzen und diesen weiterentwickeln – und zwar in den Zentren, denn dort ist die Nachfrage am höchsten. Zudem macht es auch aus Sicht der Mobilität Sinn, Wohnungen dort zu bauen, wo die Arbeitsplätze sind und wo sich die Freizeit abspielt. Dies erhöht erwiesenermassen die Lebensqualität. Wir unterstützen daher das Konzept «10-Minuten-Stadt» von Sibylle Wälty, das dieses Anliegen abbildet, und fördern aktiv Projekte, die diesen Rahmenbedingungen gerecht werden.
Neubauten, das heisst das Bauen auf der grünen Wiese, erachten wir als sekundär – und zwar nicht wegen der knappen Baulandreserven, sondern weil diese oft dort liegen, wo keine Nachfrage besteht. Folglich wird Bauland sogar teilweise rückgezont.
Interventionen in den Bestand kann Aufstockungen bedeuten. Oft handelt es sich aber um Ersatzneubau, was Widerstand bei der Bevölkerung auslöst und sich in Einsprachen äussert. Kann dieser Widerstand verhindert werden?
Wichtig ist, frühzeitig mit der betroffenen Bevölkerung den Dialog zu suchen. Solche Partizipationsverfahren sind erfahrungsgemäss auch die beste Prävention gegen Einsprachen. Rekursverfahren verzögern nicht nur die Realisierung des Projekts, sondern verteuern auch den Bauprozess wegen Inflation und entgangener Mieteinnahmen. Diese Mehrkosten werden zwangsläufig auf die Mieten abgewälzt; dessen sollten sich Beschwerdeführer stets bewusst sein. Einsprachen, die rein aus eigennützigen Interessen erfolgen, wirken sich letztlich zum Nachteil der Allgemeinheit aus.
Widerstand entsteht aber auch aufgrund von Leerkündigungen.
Es ist unbestritten schmerzhaft, wenn man nach Jahrzehnten eine Wohnung und damit oft auch das gewohnte Umfeld verlassen muss. Verstärkt wird der Effekt durch die grosse Diskrepanz zwischen Bestands- und Marktmiete. Wie die offiziellen Statistiken, zum Beispiel des Bundesamtes für Wohnungswesen BWO, belegen, ist der Anteil an nicht tragbaren Mieten also einer Mietbelastung, welche nicht mehr als einem Drittel des Einkommens entspricht, in der Schweiz immer noch sehr gering. Wo die Tragbarkeit nachweislich nicht gegeben ist, bekommen Betroffene finanzielle Unterstützung. Aber das Problem wird sich in Zukunft verschärfen und wir müssen es ernst nehmen.
Für Ausgleich sorgen zudem die Gemeinden mit ihrem Finanzvermögen sowie die Wohnbaugenossenschaften. Gerade bei den grossen (Ersatz-)Neubauprojekten spielen letztere eine wesentliche Rolle, beteiligen sich diese doch in der Regel zu einem Drittel an diesen Projekten.
Schliesslich gibt es auch im Renditemarkt diverse Akteure, welche mit sozialverträglichen Modellen von sich reden machen, seien es Tauschwohnungen, «Mitnahme» des günstigeren Mietzinses bei Umzug in eine kleinere Wohnung oder Rückkehrmöglichkeiten. Ebenso bemühen sich diverse aktiv um Ersatzwohnungen.
Dennoch, es gibt ungenutztes Aufstockungs-Potenzial, und die Versuchung zu «Tabula Rasa», nämlich Abreissen und Ersatzneubau, ist gross. Der Zugriff auf die Marktmiete dürfte da doch die hauptsächliche Motivation sein, oder?
Unserer Branche wird genau Ihr Votum vorgeworfen, dabei greift es zu kurz. Mit Ersatzneubau ist nicht nur das Potenzial an zusätzlichem Wohnraum grösser als bei Aufstockungen, oft ist diese Variante auch langfristig ökologisch sinnvoller. Aufstockungen oder Erweiterungen sind baulich aufgrund der Bausubstanz sowie den statischen und regulatorischen Anforderungen meist anspruchsvoller als Ersatzneubauten – bis hin zu unsinnig oder gar unmöglich.
Grundsätzlich ist es wichtig, dass wir unser Land klug weiterentwickeln, also die richtige Mischung aus Bestand und Ersatzneubau finden. Und zwar am richtigen Ort, nämlich dort, wo unsere Bevölkerung wächst.
Nehmen wir das Beispiel des geplanten Ersatzneubaus im Kreis 4 der Stadt Zürich (Kanzlei-/Seebahnstrasse). Dort soll eine funktionierende Liegenschaft mit 260 bezahlbaren Wohnungen durch einen Neubau mit 350 Wohnungen ersetzt werden? Ist das verhältnismässig?
Ich kann mich nicht zu Bauvorhaben äussern, die ich nicht im Detail kenne. Ich gehe davon aus, dass solchen Entscheiden umfassende und sorgfältige Analysen vorausgegangen sind, und zwar in Bezug auf die Ist-Situation sowie das Potenzial.
Welche Kriterien müssten für eine solche Evaluation idealerweise herangezogen werden?
Es geht um die Bewertung der Bausubstanz sowie der Gebäudequalität, insbesondere auch aus Sicht der Nutzerbedürfnisse. Dazu gehören Kriterien betreffend Wohlbefinden und Gesundheit wie Tageslicht, Lärm, Überhitzung, Raumluftqualität, Strahlenbelastung oder Bauschadstoffe (Asbest/PCB), aber auch um den Energiebedarf und damit die Höhe der Nebenkosten.
Beim Potenzial geht es aber nicht nur um die Behebung dieser Mängel, sondern eben auch um die Schaffung von neuem Wohnraum, um die Quartierentwicklung und damit den Beitrag zur Verminderung der sozialen Isolation. Schliesslich gibt es weitere Aspekte wie beispielsweise Mobilitätsangebote oder Verkehrssicherheit.
Der SSREI beinhaltet diese Aspekte und bildet die Schnittstelle zwischen Bestandsanalyse und strategischer Planung. Inwiefern kann SSREI dem Entwickler hilfreich sein?
Wichtig ist, dass eine nachvollziehbare Systematik angewandt wird. Anerkannte Standards verhelfen zur Akzeptanz und vereinfachen die Kommunikation.
Nebst der Gebäudequalität muss aber auch der Bauprozess besser standardisiert werden. Bauen ist komplex geworden. Bauvorschriften, Nachhaltigkeit, Beschaffung, Finanzierung, Fachkräftemangel und vieles mehr belasten diesen Prozess. Es braucht integrierte, digitalisierte Abwicklungsmodelle, um letztlich Bauprojekte effizient und partnerschaftlich – das heisst möglichst ohne Streitereien – rechtzeitig und im geplanten Kostenrahmen abschliessen zu können. Als Verband setzen wir uns gemeinsam mit den anderen Akteuren aus der Bauindustrie stark für diese integrierten Abwicklungsmodelle ein, wie das Allianzmodell des SIA, Design Build oder IPD.
Kommen wir zur Rolle von Politik und Behörden. Was tun diese gegen die oben besprochenen Probleme, insbesondere die Wohnungsknappheit und die Bauverzögerungen?
Das Departement von Bundesrat Guy Parmelin hat bekanntlich zum «runden Tisch» eingeladen, woraus der Aktionsplan «Wohnungsknappheit» hervorgegangen ist. Wir sind da aktiv eingebunden. Dabei legen wir unseren Fokus primär auf mögliche Massnahmen zur Eindämmung von ungerechtfertigten Beschwerden sowie zur Beschleunigung der Bauprozesse mittels effizienterer Baubewilligungsverfahren. Auch hier ist der Dialog zentral, denn nur wenn wir als Entwickler mit den Gemeinden, Städten, Kantonen und der Politik eng zusammenarbeiten und alle Führung und Wille an den Tag legen gelingt es. Auf diesem Weg sind wir.
Ausserdem wurde vom Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) parallel das «Raumkonzept Schweiz» erarbeitet, welches strategische Vorgaben für die Bodennutzung machen soll. Ziel ist es, auf Regionen mit hohem Bevölkerungswachstum und entsprechendem Bedarf an Wohnraum Druck auf adäquates Wachstum auszuüben. Wir sind mit dem aktuellen Stand noch nicht zufrieden und haben uns konstruktiv kritisch eingebracht – es ist wichtig, dass wir strategische Guidance im Sinne der vorhandenen Daten zum Bevölkerungswachstum und der weiteren Entwicklung der Schweiz haben. Wir unterstützen neue Konzepte wie Planungsregionen oder sogenannten «White Zones» und die Stärkung der Kompetenzen und des Leaderships in den Gemeinden und Städten, denn Raumplanung soll vom Bund klare und zukunftsgerichtete Rahmenbedingungen erhalten aber die kommunale Hoheit behalten.