Dieses Interview wurde von Jessica Brackmann, Co-Managing Director beim CUREM (Center for Urban & Real Estate Management, Universität Zürich), geführt.
Interview mit Elvira Bieri
Geschäftsführerin, SSREI AG
Wer sind Sie?
Ich habe an der Universität Bern Betriebs- und Volkswirtschaft studiert und an der Harvard Business School in Boston Weiterbildungen absolviert. Die Nachhaltigkeit beschäftigt mich seit 40 Jahren – zuerst als Hilfsassistentin des ersten Schweizer Ökologie-Professors, Jost Krippendorf, und danach als Mitarbeiterin von Umweltberatungsbüros. Zuletzt führte ich fast 20 Jahre lang die Schweizer Ländergesellschaft der SGS Société Générale de Surveillance SA, wo ich unter anderem die Gesamtverantwortung für den SNBS-Hochbau innehatte. Heute bin ich Geschäftsführerin der SSREI AG und daneben in Verwaltungsräten engagiert. Zudem habe ich einen Lehrauftrag an der Wirtschaftsfakultät der Universität Luzern.
Zu welchem Zweck wurde der Standard SSREI lanciert?
Als ich von 2015 bis 2020 die Gesamtverantwortung für den SNBS-Hochbau innehatte, führte ich unzählige Gespräche mit Akteuren der Immobilienbranche. Ich bekam stets dieselbe Rückmeldung: Gut, gibt es nun einheitliche Richtlinien und ein gutes Umsetzungsinstrument für das nachhaltige Planen und Bauen. Das stärkt die Schweizer Baukultur und schafft Ordnung. Doch gibt es auch ein analoges Instrument für den Bestand? Für die nachhaltige Transformation unseres Portfolios benötigen wir eine fundierte Analyse.
In der Folge dessen wurde der SSREI entwickelt, welcher sich, wie bereits der SNBS fürs Planen und Bauen, an der SIA-Norm 112/1 «Nachhaltiges Bauen – Hochbau» orientiert. Wodurch den Akteuren der Bau- und Immobilienbranche somit ein normkonformes Instrumentarium mit einheitlicher Logik zur Verfügung steht.
Weshalb ist eine einheitliche Methodik für die Portfolio-Analyse im Interesse der Branche?
Unterschiedliche Methoden führen zu unterschiedlichen Ergebnissen, was weder im Sinne der Immobilienbesitzer noch der Anleger ist. Aus dieser Erkenntnis heraus ist beispielsweise auch der REIDA-Benchmark entstanden. Die Real Estate Investment Data Association ist eine nicht profitorientierte Organisation, die das Ziel verfolgt, laufend die Marktdatenlage und das Marktwissen zu verbessern, unter anderem betreffend die CO2-Werte.
Beim SSREI geht es aber nicht «nur» um Energie- und CO2-Daten, sondern um den Bilanzwert. Schliesslich ist es im Interesse der Immobilienbesitzer, dass sich deren Nachhaltigkeitsbemühungen auch in der Bewertung niederschlagen – dabei aber nicht der Willkür des Bewerters ausgesetzt sind. Standards leisten hier Abhilfe.
Doch die Portfolio-Analyse zu standardisieren, d.h. dieselben Kriterien abzufragen und sie einheitlich zu bewerten, gibt noch keinen Aufschluss über deren Einfluss auf den langfristigen Wert einer Immobilie…
Tatsächlich sind viele Nachhaltigkeitskriterien „intangibel“, d.h. sie tangieren den Cashflow nicht direkt, sondern fliessen (allenfalls) in den Diskontierungssatz mit ein. Der Bewerter ist hier auf empirisch erhärtete Daten angewiesen. SSREI ist nicht nur ein Portfolioanalyse-Instrument, sondern eben auch ein Daten-Pool, welcher uns mit der Zeit Aussagen über die Korrelation von Nachhaltigkeit und Werthaltigkeit erlauben wird. Erkenntnisse welche wird dem Markt sodann zurückgeben können.
Können Sie hierfür ein Beispiel nennen?
Zum Beispiel der Zusammenhang zwischen Nutzungsflexibilität und Leerstand oder der Aussenraumqualität und Mietpreisen. Das Ziel ist, intangible Daten in tangible umzuwandeln. Folglich kann der Bewerter den Einfluss auf den Diskontierungsfaktor verlässlicher und für den Kunden nachvollziehbar ermitteln.
Wo stehen Sie heute mit dem SSREI?
SSREI ist nun seit über vier Jahren am Markt und etabliert sich zunehmend als Branchenstandard. Es freut uns, dass bereits zahlreiche namenhafte Akteure – Immobilienanlageprodukte und Institutionen – diesen Standard zur Anwendung bringen.
Natürlich lassen wir neue Erkenntnisse und regulatorische Rahmenbedingungen kontinuierlich in die Weiterentwicklung einfliessen. Konkret haben wir den Anforderungskatalog aktualisiert und die Nachweisführung vereinfacht. Zudem sind wir kürzlich eine Zusammenarbeit mit der SFGM (Schweizerische Fachstelle für Gebäudemanagement), betreffend die Abfrage öffentlich verfügbarer Daten, eingegangen und haben im Weiteren eine weitgehende Automatisierung des SSREI-Portfoliobewertungstools implementieren können. Dadurch konnte der Bewertungsaufwand für den Anwender von anfänglich 4-6 Stunden pro Gebäude auf rund eine Stunde reduziert werden.
Was ist konkret die Rolle der SSREI AG?
Die Gesellschaft fungiert als Standard-Organisation und unabhängige Kontrollstelle. Wir entwickelten den Anforderungskatalog inklusive Bewertungssystem und aktualisieren diesen periodisch. Zudem überprüfen wir, ob dieser korrekt angewandt wird. Wir sind jedoch weder in die Datenerfassung, die Bewertung oder in die Massnahmenfestlegung zur Verbesserung der Gebäudequalität involviert. Hierfür stehen externe Dienstleister zur Verfügung.
Somit besteht keine Konkurrenz zwischen Ihnen und den Beratern und Bewertern?
Nein, im Gegenteil. Für die Datenerhebung mandatiert der Kunde oft einen Nachhaltigkeits-Berater. So können sich professionelle Akteure denn auch als SSREI-Berater akkreditieren lassen. Die Gebäude-Evaluation nach SSREI kann grundsätzlich auch der Bewerter übernehmen.
Gibt es auch andere Instrumente am Markt?
Der kürzlich erschienene Leitfaden «Nachhaltigkeits-Standards für Immobilien», an welchem ich zusammen mit anderen Standardeignern mitgewirkt habe, präsentiert die in der Schweiz bekannten Standards für Bestandesliegenschaften und nimmt eine umfassende technische Gegenüberstellung der verschiedenen Instrumente vor. Grundsätzlich gilt es dabei zwischen Betrieb und Gebäudequalität zu unterscheiden.
Wodurch unterscheiden sich die Instrumente für die Gebäudequalität respektive den Betrieb von Liegenschaften?
Während ersteres die Gebäudecharakteristiken analysiert, geht es beim Betrieb um das Gebäudemanagement. Oder anders gesagt: Wenn ein Eigentümer eine Liegenschaft veräussern möchte und der Käufer einen Nachweis über die nachhaltige Qualität des Gebäudes verlangt, dann nützt ihm ein Betriebs-Zertifikat wenig, denn dieses besagt lediglich, dass die Regeln rund um das Gebäudemanagement (betreffend Instandhaltung, Instandsetzung, Monitoring etc.) korrekt umgesetzt worden sind. Das Zertifikat sagt jedoch nichts über die effektive Gebäudequalität aus – hierfür dient eben die Bestandsbewertung gemäss SSREI.
Können Standards noch in anderweitige Kategorie unterteilt werden?
Standards für den Betrieb sind DGNB-GiB fürs Gebäudemanagement (E) und GRESB für die umfassende nachhaltige Ausrichtung von Unternehmen, inklusive Arbeitsbedingungen (S) und Unternehmensführungsgrundsätzen (G) betreffend Betrug, Korruption, Managerlöhne, Parteienfinanzierung etc.
Instrumente für die Bewertung der Gebäudequalität gibt es einige, aber Certification Schemes, d.h. öffentlich zugängliche Standards mit unabhängigem Verifikationsverfahren, sind nur BREEAM in-Use (Teil I: Gebäude) sowie SSREI. Folglich wird SSREI seit 2022 denn auch als Bestands-Zertifizierung, Portfolio-Analyse sowie bei weiteren thematisch überschneidenden Anforderungen von GRESB anerkannt (Hier finden Sie sämtliche Informationen zur Anerkennung).
Wenn Sie als Immobilieneigentümerin zwischen einem Instrument bezüglich Gebäudequalität oder Betrieb wählen müssten, welchem würden Sie den Vorzug geben?
Beiden – wobei auf der betrieblichen Seite nicht zwingend alle Gebäude zertifiziert werden müssen, denn das ist doch sehr aufwendig.
Lassen Sie mich den Vergleich mit dem Finanz- und Rechnungswesen anstellen: Gemäss Obligationenrecht benötigen Firmen einerseits ein internes Kontrollsystem (IKS), d.h. auf die Risiken abgestimmte Prozesse und Abläufe inklusive Kontrollmechanismen, und andererseits nach definierten Regeln (IFRS oder Swiss GAAP FER) erstellte Erfolgsrechnungen und Bilanzen. Ohne System keine verlässlichen Resultate, ohne Resultate keine Berichterstattung. DGNB-GiB oder GRESB ist das IKS, SSREI steht in Analogie zu Swiss GAAP FER.
Standards schaffen Ordnung, Transparenz und Vergleichbarkeit. Wird das vom Markt auch wirklich gewünscht?
Man muss unterscheiden zwischen methodischer und inhaltlicher Transparenz (Performance).
Auch hier gilt der Vergleich mit den Finanzen: Die methodische Transparenz, d.h. die Aussage, nach welchem Standard die Finanzkennzahlen ermittelt worden sind, ist zwingend. Renditen hingegen sind branchenspezifisch, und man muss mit der Branche mithalten können. Hier braucht es eine differenzierte Betrachtung.
Dies gilt ebenso bei den Immobilien, sind die Portfolios doch heterogen. Mit der zunehmenden Etablierung des SSREI als Standard für den Bestand werden auch – die durchaus erwünschten – differenzierten Vergleiche bspw. betreffend die Nutzungsart, Region, Alter etc. ermöglicht und die dahingehende inhaltliche Transparenz sichergestellt.