Interview mit Katrin Hauser

Katrin Hauser, Co-Geschäftsführerin der SiedlungsNatur GmbH und Mitautorin des Biodiversitätsbewertungstools BioValuesTM im Interview.
Wer sind Sie?

Ich bin Geografin mit Vertiefungen in Klimatologie und Raumplanung sowie einer Weiterbildung in systemischem Coaching. Heute arbeite ich als Beraterin, Facilitatorin und Unternehmerin mit dem Ziel, nachhaltige Veränderungen zu ermöglichen. Gemeinsam mit meiner Geschäftspartnerin habe ich die Firma SiedlungsNatur GmbH gegründet. Wir setzen uns dafür ein, dass Biodiversität zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Planung, Bewirtschaftung und Entwicklung von Immobilien wird. Denn artenreiche Lebensräume stärken nicht nur die Natur, sondern auch die Lebensqualität und Resilienz unserer Siedlungen – und sichern langfristig den Wert von Immobilien.

Das Artensterben steht bei der UNEP gleich weit oben auf der Agenda wie der Klimawandel. Wie schlecht steht es effektiv um die Biodiversität auf der Erde?

Die Biodiversität ist weltweit in einer ebenso kritischen Lage wie das Klima. Laut UNEP sind bis zu einer Million Arten vom Aussterben bedroht, viele Populationen schrumpfen drastisch – vor allem durch den Verlust und die Zerstörung von Lebensräumen, Umweltverschmutzung, Übernutzung und die Folgen des Klimawandels. Zwar gibt es Fortschritte beim Schutz, doch sie reichen nicht aus. Derzeit stehen rund 17 % der Landflächen und 8 % der Meeresgebiete unter Schutz, das Ziel von 30 % bis 2030 ist also noch weit entfernt.

Besonders sichtbar ist die Krise auch in der Schweiz. Mehr als ein Drittel der Tier- und Pflanzenarten sowie etwa die Hälfte der Lebensräume sind hierzulande bedroht. Hauptursachen sind die intensive Landwirtschaft, der Einsatz von Pestiziden, Stickstoffeinträge sowie Versiegelung und Zersiedelung.

Wie problematisch ist der Rückgang der Artenvielfalt für die Umwelt?

Der Verlust der Artenvielfalt gefährdet die Stabilität unserer Ökosysteme – und damit unsere Lebensgrundlagen, nämlich sauberes Wasser, fruchtbare Böden, reine Luft und eine sichere Nahrungsversorgung. Wenn diese Vielfalt schwindet, sinkt zugleich die Widerstandskraft gegenüber Krisen wie Klimawandel oder Pandemien. Ein Beispiel: In den letzten 120 Jahren haben Moore und Trockenwiesen zwischen 70 und 95 Prozent ihrer Fläche verloren – Lebensräume, die für Wasserhaushalt, Kühlung und Artenreichtum zentral sind.

Die Folgen sind längst spürbar. Viele Gemeinden müssen Trinkwasser über weite Distanzen zuführen oder im Notfall mit Tanklastwagen liefern, weil lokale Reserven nicht mehr ausreichen. In Städten wie Basel zeigt sich die Krise ebenfalls deutlich. Dort entstehen durch dichte Bebauung starke Hitzeinseln, Grünflächen verdorren oft schon im Frühsommer, und geschwächte Bäume verlieren Äste, sodass Parks und Wege gesperrt werden müssen. Das ist ein unmittelbarer Verlust an Lebensqualität, Schatten und Aufenthaltsräumen.

Auch die Immobilienbranche ist direkt betroffen: Sinkt die ökologische Qualität, leidet die Standortattraktivität, die Lebensqualität in Siedlungen – und damit langfristig auch der Wert von Immobilien.

Und wie ist der Mensch davon betroffen?

Hitzewellen in Städten wie Basel führen schon heute zu erhöhter Sterblichkeit – besonders bei älteren Menschen, Kindern und chronisch Kranken. Wenn Wohnungen nachts nicht mehr auskühlen, nehmen Schlafprobleme, Erschöpfung und gesundheitliche Belastungen deutlich zu. Gleichzeitig verschärfen verdorrte Grünflächen und gesperrte Parks die Lage, weil wichtige Erholungsräume fehlen und soziale Ungleichheiten verstärkt werden.

Laut dem Bundesamt für Umwelt und dem Bundesamt für Gesundheit verursachen Hitzewellen in der Schweiz jährlich mehrere Hundert vorzeitige Todesfälle – weltweit sind es über 50’000. Hinzu kommen Tausende zusätzliche Arztbesuche und Spitaleintritte. Die volkswirtschaftlichen Kosten belaufen sich allein hierzulande auf 300 bis 500 Millionen Franken pro Jahr – durch höhere Gesundheitsausgaben, Produktivitätsausfälle und Arbeitsunfähigkeit.

Das sind beunruhigende Zahlen. Die gute Nachricht ist: Siedlungen sind zwar die Orte, an denen wir die Biodiversitätskrise und den Klimawandel besonders stark spüren – aber auch die Räume mit dem grössten Veränderungspotenzial. Die Immobilienbranche und die Siedlungsplanung haben den Hebel in der Hand. Schon mit vergleichsweise geringen Investitionen lassen sich Lebensräume erhalten und neu schaffen – und damit eine enorme Wirkung erzielen.

Wie gross ist dieses Potenzial?

Riesig – und es braucht wirklich nicht viel. Schon kleine Änderungen in Pflege und Unterhalt machen einen grossen Unterschied: Anstatt englischen Rasen, der alle zwei Wochen gemäht werden muss, können wir Blumenrasen oder Wiesen zulassen. Anstatt Hecken mit der Motorsäge auf Form zu trimmen, genügt ein sanfter Schnitt mit der Heckenschere. So bleiben Wege frei, und gleichzeitig finden Vögel Nistplätze. Auch statt jährlich neu bepflanzter Rabatten mit importierten Zierpflanzen können wir mehrjährige, einheimische Wildstauden wählen.

Sogar Parkplätze bieten Potenzial: Zwischen Rasengittersteinen entstehen kleine Mikrolebensräume – ohne dass man auf den Parkplatz verzichten muss. Und natürlich, grössere Eingriffe wie die Entsiegelung von Asphaltflächen sind teurer. Aber wo treffen Sie lieber Ihre Freunde zum Grillen? Auf einem aufgeheizten Asphaltplatz oder auf einem kühlen Kiesplatz mit Bäumen und Sträuchern? An einem heissen Sommertag kann Asphalt bis zu 15–25 °C wärmer sein als eine beschattete Kiesfläche.

Man kann also auch mit wenig viel erreichen und es braucht nicht immer grosse Investitionen?

Ja. Es geht immer um zwei Fragen: Was kann ich verbessern – bei Flächen, Qualität, Pflege und Unterhalt? Und wie komme ich dahin? Das braucht wie bei jeder Veränderung ein paar Schritte. Zuerst den strategischen Entscheid der Geschäftsleitung, dann die Klarheit, wer im Unternehmen betroffen ist: Portfoliomanager, Asset Manager, Bewirtschafter oder Unterhaltsverantwortliche.

Wir begleiten Firmen dabei, Biodiversität systematisch und effizient einzuführen. Das ist eine Anfangsinvestition, aber unsere Erfahrung zeigt, dass sie sich mehrfach auszahlt. Denn was kein Immobilieneigentümer will, sind Konflikte, wenn Mieter plötzlich über vermeintliche «Unordnung» klagen.

Naturbelassene Aussenräume haben zudem einen sozialen und psychologischen Effekt, denn die meisten Menschen empfinden sie als angenehm und wohltuend, sie laden zum Verweilen und Begegnen ein. So entstehen identitätsstiftende, lebenswerte Siedlungsräume – ein Mehrwert, den man mit relativ wenig Einsatz erhalten und neu schaffen kann.

Wie funktioniert BioValuesTM genau?

BioValuesTM ist im Grunde eine interaktive, standardisierte Beratung zur Förderung der Biodiversität. Das Tool bewertet sowohl Neubauten und Sanierungen als auch bestehende Immobilien – entweder vollautomatisch auf Basis der Adresse oder durch eine strukturierte Bestandesaufnahme, zum Beispiel durch Gärtner:innen oder Nachhaltigkeitsbeauftragte.

Auf dieser Grundlage entstehen konkrete, standardisierte Handlungsempfehlungen. Eigentümerschaft und Bewirtschaftung erhalten so einen nachvollziehbaren, vergleichbaren Prozess, der zeigt, wo das Potenzial liegt, und wie es sich gezielt ausschöpfen lässt, um Biodiversität systematisch zu fördern.

Wo stehen Sie in der Entwicklung von BioValuesTM?

BioValuesTM für Planungen ist bereits live und wird von über 750 Nutzer:innen verwendet, vor allem von Architekt:innen, Landschaftsarchitekt:innen und Gärtnerbetrieben. Aktuell entwickeln wir gemeinsam mit acht der grössten Schweizer Immobilieninvestoren eine Erweiterung für Bestandsimmobilien. Ab nächstem Jahr können damit ganze Portfolios einfach und einheitlich bewertet werden, inklusive standardisierter Handlungsempfehlungen.

Viele Massnahmen sind nicht teuer. Mit klugen, gezielten Eingriffen lassen sich grosse Wirkungen erzielen – für die Natur, für die Menschen und auch für den langfristigen Wert von Immobilien. Besonders erfreulich ist zudem, dass BioValuesTM als Anwendungshilfe im SNBS angeboten wird und wir seit 2023 zusammen mit der SIA Schulungen anbieten.

Kommen wir zum Schluss auf die Rolle der öffentlichen Hand. Dort kennt man das Konzept «Schwammstadt», welches auf Entsiegelung fokussiert, aber die Biodiversität aussen vorlässt. Schade, oder?

Wir erleben das anders, Ja, denn gerade die Verbindung von Klima- und Biodiversitätszielen ist entscheidend für die Zukunft unserer Städte. Erfolgreiche Schwammstadt-Konzepte brauchen verschiedene Bausteine: eine frühe Standortanalyse, ein offenes Planerteam, das disziplinübergreifend denkt, und klar vernetzte Ziele von Klima, Biodiversität, Infrastruktur und Nutzergruppen. Multifunktionale Ansätze, abgestimmte Prozesse und echte Partizipation – auch mit ungewöhnlichen Akteuren – machen solche Projekte stark.

Und deshalb gehört Biodiversität nicht ans Ende als „Add-on“. Wenn sie von Anfang an integriert wird, verstärkt sie die Klimawirkung, erhöht die Resilienz und macht Städte lebenswerter. Wird sie erst nachträglich berücksichtigt, bleiben grosse Potenziale ungenutzt – und es entstehen oft nur teure, wenig wirksame Symbolmassnahmen.

Herzlichen Dank, Frau Hauser, für Ihre Zeit und das interessante Gespräch.

Weitere Informationen finden Sie unter SiedlungsNatur GmbH und BioValuesTM.

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